Opfer der Hautesser

7. Oktober 2022
  • :
  • Opfer
  • der Hautesser

  • Augen aus
  • Glas

  • schon in der Schule
  • verarschte man dich

  • wegen deines Achselhaars
  • oder aber der zu kleinen
  • Brüste

  • um mit
  • niemandem zu reden
  • hattest du deine

  • Strategien: Buch lesen
  • Klo gehen
  • Semmel essen

  • man schlug dich
  • am Gang
  • bis dein Bruder kam

  • du stopftest dir
  • den BH aus

  • mit Watte: half nix
  • jeder lachte

  • dich aus

  • später die
  • Männer:

  • deine Aufesser
  • Hautesser

  • du kauertest dich in
  • ihre Schale: einmal
  • zweimal
  • dreimal Ich

  • weggeatmet: wenn sie
  • eingebildet waren sagtest
  • du immer sie hätten

  • einen Minderwertigkeits
  • Komplex und

  • liebtest
  • sie weiter bis

  • Blut kam

  • noch heute ziehst
  • du dir deine Schatten an

  • lässt dich schlagen
  • um nicht gleich

  • wegzusterben

  • Opfer der
  • Hautesser
geb. 1984 in Wien, lebt in Wien. Studium der Komposition/ Musiktheater, Szenisches Schreiben, Drehbuch und Filmregie. Doktor der Philosophie für Sprachkunst. Literaturförderungspreis der Stadt Graz sowie Manuskripte-Förderungspreis. Shortlist für den Österreichischen Buchpreis 2019. Zuletzt erschienen: «Clara und ihre Morde» (emons:). Lehrbeauftragte an der Pädagogischen Hochschule Niederösterreich.

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Kommentar

Dreimal tauchen die titelgebenden Hautesser in Sophie Reyers Gedicht auf. Zu Beginn, in der Mitte und am Ende. Die Hautesser sind dabei durchgängig negativ belegt, haben das lyrische Du zum Opfer auserkoren. Die Hautesser agieren einfältig, körperliche Merkmale reichen ihnen zum Ausbruch ihrer alles verschlingenden Gier. Das ändert sich auch später nicht, es gibt zwar Strategien gegen die Hautesser, aber spätestens durch den in der Mitte des Gedichts eingeleiteten Transformationsprozess der Hautesser werden diese wirkungslos. Mit der Transformation der Hautesser erhebt sich auch ein Widerspruch: Sie sind zugleich Gefahr, als dass sie auch Schutz bieten, sie werden als Schalentiere sogar Subjekte der Liebe.

Die in den Hautessern angelegte Metaphorik scheint im Rahmen des Gedichts eindeutig, trotzdem lohnt sich ein Blick auf den metaphorischen Ursprung der Hautesser, also der Hausstaubmilben, deren wissenschaftlicher Name Dermatophagoides als Hautesser übersetzt werden kann. Natürlich, sie sind hier vordergründig nicht gemeint, trotzdem ergeben sich einige Parallelen. Genauso wie man die Milben nicht loswird, wird das lyrische Du die Hautesser nicht los, hartnäckig bleiben sie auf und in der Haut stecken. Auch «wegatmen» lassen sie sich nicht, genauso wie Hausstaubmilben die Atemwege befallen können. Und auch in ihrer Grösse sind sie sich ähnlich, mikroskopisch klein und von entsprechenden Komplexen befallen.

Auffällig bleibt am Gedicht, dass es keine Lösungen anbietet, das lyrische Du steht am Ende genauso als Opfer der Hautesser da, wie es dies zu Beginn getan hat, vorerst unabhängig von den Veränderungen, die dazwischen stattgefunden haben. Das Gedicht selbst verändert aber durch seine blosse Existenz diesen Umstand: Es bleibt zwar eine Opfer-Täter-Dynamik bestehen, aber die Täter sind bekannt, werden benannt und in ihren Eigenarten entlarvt. Das Du weiss, wie es zu ihnen steht, was sie machen werden und was von ihnen gefürchtet werden muss. Damit findet eine Überwindung statt, das abschliessende «Opfer der/ Hautesser» steht unter gänzlich anderen Vorzeichen, wie das erste. Nicht nur die Hautesser haben sich gewandelt, sondern auch das lyrische Du.

Nick Lüthi

Schreibt und spricht über Bücher aus unabhängigen Verlagen für diverse Medien. Veröffentlichung von Gedichten in diversen Literaturzeitschriften.

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